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Bericht und Bilder zum Informationstag Industrie 4.0

Industrie 4.0 ist eine gigantische Revolution der Technik mit gigantischen Folgen nicht nur für die Arbeitswelt, sondern für das soziale Miteinander aller Menschen. Die Leiter des Regionalkreises Ostalb-Donau der DGQ, Deutsche Gesellschaft für Qualität e. V., Guido Lange und Reinhard Schnell, haben in Zusammenarbeit mit der DGQ-Landesgeschäftsstelle Süd und der ASYS Group als gastgebendem Unternehmen am 11.11.2016 ein Forum angeboten, auf dem aus verschiedenen Perspektiven über die Veränderungen durch Industrie 4.0 in Unternehmen und Gesellschaft informiert wurde. Nachfolgend sind die wichtigsten Informationen aus dieser Veranstaltung zusammengefasst, den Abschluss dieser Seite bildet eine Liste der referenzierten Quellen.

Einleitung

Die Hightech-Strategie der Bundesregierung, zuletzt 2014 aktualisiert, ist das richtungsweisende Dokument aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, „Deutschland auf dem Weg zum weltweiten Innovationsführer voranzubringen“ [1]. Für Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft werden darin sechs „prioritäre Zukunftsaufgaben für Wohlstand und Lebensqualität“ beschrieben, allen voran Digitale Wirtschaft und Gesellschaft mit den Aktionsfeldern

Industrie 4.0 führt diese Liste an, die die Bundesregierung als Treiber des „übergreifenden Einflusses des digitalen Wandels auf die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ versteht und deshalb die Digitale Agenda 2014–2017 [2] mit dem Ziel entwickelt hat, „diesen Wandel aktiv zu gestalten und in der Mitte der Gesellschaft zu verankern“ [1].

Obwohl Industrie 4.0 und das Internet der Dinge dominierende Themen in den Medien sind, sah man im Regionalkreis Ostalb-Donau einen Bedarf, der Frage nachzugehen, was denn der genannte Wandel in den Unternehmen und in der Gesellschaft konkret ist. Die Antworten dazu sollten sowohl in Vorträgen mit Themenschwerpunkten von anerkannten Experten gegeben werden als auch in direktem Erleben von Industrie-4.0-Produkten gewonnen werden können. Als Ergebnis entstand das Programm zum Informationstag Industrie 4.0.

Mit 124 Teilnehmeranmeldungen erreichte die Veranstaltung außerordentlich hohe Aufmerksamkeit. Udo Hansen, Präsident der DGQ, berichtete am Tagesende in seinem Resümee vom Erleben großer Lernhübe in einem Thema, das die Welt verändern und die DGQ deshalb in ihren Netzwerken treiben werde, und appellierte an die Teilnehmer, sich aktiv einzubringen: „Dafür brauchen wir Sie".

Vordere Reihe v.l.n.r: Reinhard Schnell, Dr. Benedikt Sommerhoff, Udo Hansen, Dr. Christoph Zanker, Guido Lange, Christoph Pienkoß. Hintere Reihe v.l.n.r: Dr. Mischa Seiter, Dr. Christian Naydowski, Werner Kreibl, Ulrich Ehmann.

Unternehmensqualität mit neuen Vorzeichen

Dr. Benedikt Sommerhoff, seit 01.11.2016 verantwortlich für Innovation und Transformation in der DGQ, eröffnete mit dem Hinweis auf den von Hermann Lübbe, emeritierter Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich, geprägten Begriff Gegenwartsschrumpfung, um die Andersartigkeit der heutigen Zeit gegenüber allen anderen Phasen der Menschheitsgeschichte zu benennen.

Bisher sei es immer so gewesen, dass Menschen über viele Generationen hinweg mit dem Wissen und den Werkzeugen ihrer Vorfahren leben und arbeiten konnten und beides auch über viele Generationen in moderaten Innovationsraten weitergeben konnten. Die heutige Innovationsrate sei dagegen so enorm, dass Wissen und Werkzeuge innerhalb weniger Jahre veralteten und nutzlos würden. Auf diese Weise schrumpfe die Gegenwart von einer generationenumspannenden Phase auf wenige Jahre, Veränderungstiefe und -geschwindigkeit hätten extrem zugenommen und täten es mit weiter zunehmender Geschwindigkeit.

Es stehe nicht zur Diskussion, ob Industrie 4.0 eine Revolution oder nur ein Hype sei: Zwar erstreckten sich die technologischen Entwicklungen über viele Jahre und seien somit eher evolutionär, die Konsequenzen für Unternehmen und Wirtschaft, Menschen und Gesellschaft seien jedoch ohne jeden Zweifel stark revolutionär.

Unternehmen und Gesellschaft müssten sich deshalb mit der Zukunft viel intensiver auseinandersetzten und anpassungsfähiger werden. Sommerhoff stellte als Lösungsansatz den Wandel zur agilen Organisation und zu agilen Organisationsnetzwerken vor: „Es ist an der Zeit, sich Gedanken zu machen, wie das Qualitätsmanagement für eine Unterstützung agiler Unternehmenskulturen und -strukturen fit gemacht werden kann. Das Manifest für Agiles Qualitätsmanagement [3] ist der aktuelle Diskussionsbeitrag der DGQ dazu.“

Chancen und Risiken für den Mittelstand

Dr. Christoph Zanker, bis 30.09.2016 Leiter der Koordinierungsstelle der Allianz Industrie 4.0 Baden-Württemberg, Professor für strategisches Produktionsmanagement an der Hochschule Wirtschaft & Umwelt in Nürtingen und Geislingen, setzte Sommerhoffs Gedanken nahtlos fort mit der Feststellung, dass Vernetzung das konstituierende Merkmal von Industrie 4.0 sei. Er veranschaulichte dieses Verständnis durch Erläuterung von vier Ebenen der digitalen Vernetzung: Vernetzung der realen mit der virtuellen Welt auf der untersten, rein technischen Ebene mittels Sensoren und Aktuatoren – Vernetzung auf der obersten Ebene, die wir im beruflichen und persönlichen Alltag erleben, durch das Internet der Dienste (IoS) und das Internet der Dinge (IoT).

Die Herausforderung für die Unternehmen liegt laut Zanker darin, die zunehmende Entgrenzung von Wertschöpfungsprozessen und Innovationsprozessen in den Griff zu bekommen durch neue, agile Prozesse und Prozessmodelle. Innovation dürfe nicht länger als Störung des operativen Alltagsgeschäfts verstanden werden, sondern müsse eigenständige, operative Aufgabe sein. Dafür sei es notwendig, dass die idealtypischen Stage-Gate-Prozesse durch kooperative Innovationsaktivitäten abgelöst würden und dass Führung und Führungskultur sich am Wandel klassischer Berufsbilder zu Wissensarbeitern und an deren Bedürfnissen orientierten.

Führungskräfte für Industrie 4.0

Dr. Mischa Seiter, Professor für Wertschöpfungs- und Netzwerkmanagement am Institut für Technologie- und Prozessmanagement der Universität Ulm, untermauerte Zankers Sicht mit der Feststellung, dass angesichts der vollständigen Digitalisierung und Vernetzung der Geschäfts- und Produktionsprozesse, auch über Unternehmensgrenzen hinweg in die Zivilgesellschaft hinein, Industrie 4.0 die verfügbare Datenmenge enorm erhöhen werde – Stichwort: Big Data – und Business Analytics die Disziplin sei, die dadurch entstehenden Möglichkeiten zu nutzen [4]. Business Analytics unterscheide drei Analyseschwerpunkte in Abhängigkeit vom Wert für die Unternehmenssteuerung und von der Anforderungshöhe: Beschreibende, voraussagende und verordnende Analytik:

Seiter stellte als Berufsbild den Data Scientist vor, erläuterte die an ihn gerichtete Erwartung als Alleskönner [5] und als berufsbegleitendes Ausbildungsbeispiel das Angebot der Universität Ulm [6]. Zu Business Analytics formulierte er zwei große Herausforderungen:

Erstens seien die Wechselbeziehungen und -abhängigkeiten in den riesigen Datenmengen zunehmend nicht mehr präzise erklärbar: „Monokausalitäten sind die absolute Ausnahme“. Selbst sehr gute und erfahrene Data Scientists würden zwar Algorithmen anwenden können, aber oft nicht im Detail wissen, wie sie funktionierten. Der schnell wachsende Einsatz von Machine Learning, also der Vorgehensweise, dass Programme in der Regel nach heuristischen Algorithmen aus Daten lernten und neue Daten, die von den Originaldaten oft gar nicht unterscheidbar seien, bereitstellten, verstärke diese Problematik dramatisch. Als Folge davon werde es zunehmend schwieriger und risikoreicher für Führungskräfte zu entscheiden, auf welche Datenanalysen sie vertrauen könnten und auf welche nicht.

Zweitens entstehe in der Führung von Data Scientists auf obersten Führungsebenen die Notwendigkeit, data-driven Management zu lernen, also so viel fachliches Verständnis von Business Analytics, dass der Informationsbedarf für den Entscheidungsbedarf zwischen Data Scientist und Top Management in übereinstimmendem Verständnis besprochen werden könne. Dafür gebe es zurzeit allenfalls ansatzweise Bildungsangebote.

Papermaking 4.0

Dr. Christian Naydowski, Vice President Technology Papermaking 4.0 bei Voith Paper in Heidenheim, stellte den aktuellen Stand der Umsetzung von Business Analytics auf Papierherstellungsprozesse vor, und zwar unter Verwendung der Differenzierung in die drei von Seiter benannten Analyseschwerpunkte.

An konkreten Beispielen zeigte er, dass die herkömmliche, beschreibende Analyse als angstgetrieben und kostenintensiv erkannt worden sei mit kaum konkret messbarem Nutzen und – entscheidend für die Unternehmenssteuerung – nicht fähig, das Verhältnis von Leistung und Kosten auf hohem Niveau stabil zu machen.

Voith Paper habe deshalb systematisch die Möglichkeiten der voraussagenden Analyse in den Papierherstellungsprozess übertragen, neue Datengewinnungsmöglichkeiten – siehe oben bei Zanker: unterste, technische Vernetzungsebene – eingesetzt, um einen höheren Grad der Früherkennung von Prozessabweichungen, Vernetzung von Prozessdaten mit betriebswirtschaftlichen Anforderungen und Reduktion von menschlichen Fehleingriffen zu erreichen. Die Verstellung aller Aktuatoren erfolge unter Vernetzung von physischen Sensoren und – siehe oben bei Seiter: Machine Learning – virtuellen Sensoren in Echtzeit.

Naydowski belegte das Erreichen von Prozessstabilität und Materialeinsparungen in bisher nicht denkbaren Größenordnungen eindrucksvoll mit Daten aus Kundeninstallationen und resümierte: „Industrie 4.0 ist der PDCA-Zyklus der neuen Zeit“.

ASYS Group und PULSE-Interaktionskonzept

Werner Kreibel, geschäftsführender Gesellschafter der ASYS Group, gab einen Überblick über seine weltweit tätigen Unternehmen mit mehr als eintausend Mitarbeitern, die Handlingsysteme, Prozessmaschinen und Sonderanlagen für die Leiterplattenfertigung herstellen, vertreiben und betreuen. Die Zentrale der Unternehmensgruppe in Dornstadt war Gastgeber des DGQ-Informationstags mit Räumlichkeiten, Infrastruktur und Catering, die keine Wünsche offen ließen.

Ulrich Ehmann, Leiter Qualitätsmanagement der ASYS Group, stellte als konsequente Industrie-4.0-Umsetzung in die ASYS-Anlagen PULSE vor, eine Konzeption für die Interaktion von Mensch und Maschine die darauf zielt, die tägliche Arbeit in einer Produktionsumgebung zu vereinfachen und zu optimieren.

Statt via Leuchten, Monitoren und Konsolen an jeder einzelnen Maschine einer Anlage interagiert der Mensch mit der gesamten Anlage über Smart Watch und Tablet. Die Smart Watch ist dabei die Leitebene der Interaktion, während das Tablet zur detaillierten Interaktion dient, gestützt durch aufgabenindividuelle Apps. So erreichen beispielsweise Warnungen und Meldungen den Bediener auf der Smart Watch, auf dem Smart Phone oder dem Tablet kann er Detailinformationen, priorisierte Aufgabenlisten und technische Dokumentation abrufen.

Ehmann belegte das Erreichen von Stillstandsreduktion (-70%) und von Zeitersparnis für das Wechseln von Magazinen und Nachfüllen von Entstaplern (-38%) in bisher nicht denkbaren Größenordnungen eindrucksvoll mit Daten aus Kundeninstallationen und fasste zusammen: „Mit PULSE hat ASYS eine Lösung für Industrie 4.0 geschaffen, die gelebt wird.“

Die Teilnehmer des DGQ-Informationstags hatten anschließend Gelegenheit, eine komplette Anlage in der ASYS-Ausstellungshalle in Aktion zu sehen. Experten von ASYS erklärten dem hoch interessierten Publikum in kleinen Gruppen an den jeweiligen Maschinen Funktionsweise und Nutzen von PULSE.

Komplexität verstehen, verantworten, steuern

Guido Lange, geschäftsführender Gesellschafter der cip Unternehmensgruppe in Heidenheim, schloss den Informationstag mit einem launisch gefärbten Ausblick.

Die entscheidende Frage sei nicht, wie Industrie 4.0 Wirtschaft und Gesellschaft verändere, sondern, wie Wirtschaft und Gesellschaft – „wir“ – die Möglichkeiten von Industrie 4.0 nutzten, um Wohlstand und Lebensqualität zu erhalten und zu verbessern. Dies erfordere aktives Gestaltenwollen, „auf uns zukommen lassen“ genüge nicht.

Lange griff Seiters Hinweis auf Machine Learning auf und brachte ihn in einen systemischen Zusammenhang: Nicht nur die Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen in den rasant wachsenden Datenbeständen entzögen sich zunehmend unserem Verständnis, sondern auch die Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen der technischen und organisatorischen Systeme. Das abnehmende Interesse an MINT-Fächern und Politik seien bedenkliche Symptome dafür. Die Herausforderung sei, technische und soziale Komplexität zu verstehen, zu verantworten und zu steuern. Die Skala rechts im folgenden Bild - einer offiziellen Graphik der Bundesregierung - veranschauliche die enorme Vergrößerung der technischen und sozialen Komplexität im Verhältnis zu den vier Industriellen Revolutionen:

Dies, so Lange, erfordere hartes und geduldiges Arbeiten an gemeinsamem Verständnis für Chancen und Risiken, Möglichem und nicht Möglichem, und könne am ehesten dort gelingen, wo Führung noch Bodenhaftung habe und jede/jeder Einzelne noch Interesse am Wohlergehen des Ganzen: in inhabergeführten Unternehmen und in mitgliedergetragenen Vereinen. „Das ist meine Vision für Industrie 4.0 und mein Plädoyer für die Stärkung des Mittelstands und das Engagement im Ehrenamt – die DGQ empfehle ich Ihnen als lebendiges Beispiel.“

Quellen

  1. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Die neue Hightech-Strategie Innovationen für Deutschland. 2014. https://www.bmbf.de/pub_hts/HTS_Broschure_Web.pdf
  2. Bundesministerien für Wirtschaft und Energie, des Inneren und für Verkehr und digitale Infrastruktur: Digitale Agenda 2014 – 2017, 2014. http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/digitale-agenda-2014-2017,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf
  3. Sommerhoff, Benedikt, und DGQ-Fachkreis Qualitätsmanagement & Organisationsentwicklung: Manifest für Agiles Qualitätsmanagement. 2016. http://blog.dgq.de/manifest-fuer-agiles-qualitaetsmanagement/
  4. Seiter, Michael: Business Analytics – Instrumente zur Datenanalyse für bessere unternehmerische Entscheidungen. Vahlen, 2017.
  5. Padmaperuma, Oliver: Data Scientists – Die begehrtesten Alleskönner des 21. Jahrhunderts. 2014. https://www.de.capgemini-consulting.com/blog/digital-transformation-blog/2014/01/data-scientists-die-begehrtesten-alleskonner-des-21 
  6. Universität Ulm: Berufsbegleitender Studiengang Business Analytics (M.Sc.). 2016. https://www.uni-ulm.de/einrichtungen/saps/studiengaenge/business-analytics/